Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen
„Du übergibst mich nicht in die Hände des Feindes. Du stellst meine Füße auf weiten Raum“. So heißt es in Psalm 31.
Ich bin in Ostberlin aufgewachsen. Niemandes Füße waren in Ostberlin auf weiten Raum gestellt. Die Mauer verlief neben den S-Bahnschienen, begrenzte meinen Schulhof und zensierte unsere Worte. Nur unsere Träume waren frei. Wir träumten von Freiheit, zu reisen, wohin wir wollten und Freiheit zu sagen, was wir dachten. Die DDR-Diktatur aber wollte über jeden Teil unseres Lebens herrschen. Wie konnten unsere Träume frei bleiben?
Jeden Sonntag stellte mein Vater das Radio um 12:00 Uhr auf volle Lautstärke. Ein Westberliner Rundfunksprecher verlas zum Geläut der Berliner Freiheitsglocke das eingravierte Gelöbnis: „Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen.“
Diese Worte sind seit frühester Kindheit in meinem Kopf eingebrannt: Die Würde jedes einzelnen Menschen, sein Recht auf Freiheit. Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes, ganz egal, woher er kommt, welche Hautfarbe er hat, welches Alter und welches Geschlecht. Davon waren wir überzeugt, davon träumten wir, dafür setzten wir uns ein.
Seit ich 20 Jahre alt bin, bin ich Bürgerin eines demokratischen Staates und ich liebe es! Ich bin ein Fan der Demokratie, der freien Meinungsäußerung, der Menschenwürde. Demokratie arbeitet nicht mit Feindbildern und mit trivialen Antworten, die uns in den Kopf gehämmert werden, wie es in Diktaturen der Fall ist. Sie lebt davon, dass wir einander vertrauen und miteinander auf Augenhöhe streiten, bis ein Kompromiss da ist. Das ist unsere Kraft. Sie garantiert unsere Freiheit. Heute erleben wir Angriffe auf die Demokratie, auf freie Meinungsäußerung, auf die Würde jedes einzelnen Menschen. Spaltungen und Hassreden bedrohen das demokratische Miteinander in den USA, Europa, Asien, der ganzen Welt und auch in Deutschland. Manchmal schnürt es mir Herz und Kehle zu.
Doch träumen bedeutet nicht, still zu sein, sondern mit Martin Luther King zu rufen „I have a dream!“ Darum lasst uns an unseren Traum von einer friedlichen und demokratischen Welt festhalten. Lasst uns einander jeden Tag neu mit Zugewandtheit begegnen, lasst uns aufeinander neugierig sein, gerade auf die Andersartigkeit des Gegenübers. Lasst uns für die Würde jedes einzelnen Menschen einstehen.
„Du übergibst mich nicht in die Hände des Feindes!“ Den Feinden der Demokratie und des friedlichen Miteinanders wollen wir unser Leben und das Leben unserer Kinder nicht in die Hände geben. Es soll geprägt sein von Freiheit, Nächstenliebe und Menschlichkeit, so dass jeder jeden Tag spürt:
„Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“

